The 2nd try
Chapter 10: repeat

Übersetzung: moenoel



"Wach auf. Wach auf!"

Das war bestimmt nicht die schönste Art aus dem Schlaf gerissen zu werden. Ein süßer Kuss war auf jeden Fall vorzuziehen, als geschüttelt und angeschrien zu werden.

"WACH AUF!"

"Asuka?", murmelte Shinji und versuchte seine schweren Augenlider aufzustemmen. "Es ist viel zu früh..."

"Sag mir... sag mir dass du dich erinnerst!", flehte sie auf fast schon hysterische Art und Weise. "Sag mir, dass es nicht nur ein Traum war!"

"Beruhige dich", stöhnte er, versuchend die restliche Müdigkeit abzuschütteln. "Wo... wovon redest du?"

Endlich fingen seine Augen an sich an das Dämmerlicht zu gewöhnen – und wenn er ein wenig wacher gewesen wäre, hätte er sich vielleicht darüber gewundert, dass es aus einer Tür kam die gar nicht in dieser Richtung sein sollte.

Asuka versuchte etwas zu sagen, aber die Worte blieben ihr im Halse stecken. Erst dann bemerkte er endlich wie sehr sie zitterte, wie sehr ihre Hände bebten, die sich fest in sein Shirt krallten.

"Asuka, was ist lo...?"

Er beendet den Satz nicht. Die letzten Reste seiner Müdigkeit verflogen auf der Stelle als er es sah.

Ihr Haar. Ihr langes, wallendes Haar.

Und es war nicht nur das. Ihr Gesicht, soweit er es im Dunkeln erkennen konnte, schien runder und weicher zu sein, ihr Wangen nicht so ausgeprägt. Auch ihr Körper war kleiner und schlanker, die Muskeln an ihren unbedeckten Armen, die sich durch die harte Arbeit im Garten und an den Maschinen entwickelt hatten, waren scheinbar verschwunden...

Sie war jung.

Sie sah nicht viel älter aus, als an dem Tag an dem sie sich vor so langer Zeit zum ersten Mal getroffen hatten.

Sein Verstand raste, versuchte das Unmögliche zu verstehen, aber keiner der tausend Gedanken konnte ihm eine zufriedenstellende Antwort geben. Er sprang aus dem Bett, beinahe Asuka umwerfend, als er ungläubig die Umgebung in sich aufnahm. Ein kleines sauberes Zimmer. Er konnte die Konturen eines Cello-Koffers in der Ecke ausmachen, die bekannte Silhouette eines S-DAT-Players auf dem Schreibtisch neben dem Bett.

Das war nicht ihr Schlafzimmer Zuhause, das war sein altes Zimmer in Misatos Apartment – jedoch ohne Dreck oder gar Trümmer, ohne irgendwelche Anzeichen von Zerstörung.

Aber es war nicht nur alles um ihn herum. Auch sein Körper fühlte sich anders an, als ob Veränderungen die eigentlich langsam kamen, mit der Möglichkeit sich daran zu gewöhnen, auf der Stelle passiert waren. Er hatte vielleicht nie die ausgeprägten und scharfen Gesichtszüge seines Vaters gehabt, aber als seine Hand an sein Gesicht wanderte konnte er nur glatte Haut fühlen, nicht einmal den Ansatz von Bartstoppeln.

Was passierte hier bloß?

Er drehte sich wieder – war sie noch immer seine langjährige Ehefrau und Geliebte? – zu, die nun zusammengekauert auf seinem Bett saß. "Wie kann...?"

"Shinji?", schnitt sie seine erwartete Frage mit einem kaum wahrnehmbaren Flüstern ab. "Wo... wo ist Aki?"

Die Hand, die noch immer an seiner Wange ruhte, fiel schlaff herab, als ihre Worte in seinem Geist widerhallten.


*********


'Das hier muss ein Traum sein. Ein sehr, sehr schlechter Traum.'

Es war die einzig plausible Erklärung, die Shinji finden konnte. Die vergangenen Jahre waren zu lang gewesen, um pure Einbildung gewesen zu sein, sie hatten sich zu real angefühlt.

Aber das tat dies hier auch.

"Wie ist das möglich...?", fragte er sich flüsternd erneut selbst und immer wieder mit demselben Ergebnis.

Sie waren definitiv in Misatos Apartment, aber es fehlten jede Anzeichen von Zerstörung, die überall gewesen waren, als sie das letzte mal hier gewesen waren. Und das war nicht das einzige. Vor ihm, außerhalb des Fensters im Wohnzimmer, hinter dem Balkon waren die Lichter der sehr intakten Stadt Tokyo-3.

Aber nicht einmal dieser Anblick war so erschreckend, wie das gespiegelte Gesicht seines vierzehnjährigen Selbst, das ihn aus dem Glas heraus anstarrte.

Es konnte mit Sicherheit eine Erklärung dafür geben, wie sie im Schlaf auf diese Seite der Stadt gekommen waren. Dass sie sich auf magische Weise selbst wieder aufgebaut hatte war schon schwerer zu glauben, aber selbst dafür konnten verschiedene Erklärungen (wenn auch unlogische) gefunden werden; vielleicht waren sie länger als nur eine Nacht ohne Bewusstsein gewesen, vielleicht war es gar nicht wirklich Tokyo-3, sondern ein Nachbau, der an einer anderen Stelle in einer ähnlich wirkenden Umgebung errichtet worden war.

Aber dass sie jünger geworden waren, war einfach unmöglich.

Seine Augen von dem Anblick losreißend, drehte er sich um. Asuka saß am Küchentisch, ihr Gesicht in ihren Händen vergraben. Sie weinte nicht, zumindest nicht mehr, soviel konnte er sagen. Aber es war offensichtlich, dass auch sie mehr als mitgenommen von der Sache war.

'"Wo ist Aki?"'

Ihre Frage stand über allem anderen. Wenn sie wirklich von unbekannten Rückkehrern, Engeln, Aliens oder sonstwem weggebracht worden waren, musste sie irgendwo da draußen sein. Sie wäre allein, vielleicht in Gefahr und sie hatten keine Möglichkeit ihr zu helfen. Doch selbst dieser schreckliche Gedanke war besser als...

Ihre Aufmerksamkeit wurde auf die sich plötzlich öffnende Tür des zweiten Kühlschranks gelenkt, aus dem ein wohlbekannter Pinguin gewatschelt kam, der ihre Anwesenheit mit einem kurzen Blick zur Kenntnis nahm und sich dann weiter in Richtung Bad bewegte.

"PenPen?", hauchte Shinji ungläubig. "Wenn er hier ist, dann..."

Die Übelkeit in seinem Magen wuchs. Wenn sie wirklich in der Zeit zurückgereist waren, würde das bedeuten, dass...

Nein. NEIN! Er konnte es nicht akzeptieren. Er hatte nicht zuhören wollen, als Asuka diese Möglichkeit angesprochen hatte und genauso wenig wollte er es jetzt. Es musste einfach eine andere Möglichkeit geben.

"Vie-vielleicht ist noch ein Engel gekommen und spielt jetzt mit unseren Gedanken", bot er an, die Stille durchbrechend.

"Nein", sagte Asuka leise, ein Schauer lief ihr über den Rücken. "Das würde sich... anders anfühlen..."

Shinji wandte seinen Blick von ihr ab, fühlte sich neben allem anderen nun auch noch schuldig sie daran erinnert zu haben.

Da war noch die andere Möglichkeit, dass – ob es nun ein Engel war, oder NERV – ihren Verstand manipuliert hatten, sodass ihr Leben nach dem Third Impact und die Ereignisse, die dorthin geführt hatten, realer als ein Traum auf sie gewirkt hatten. Aber das war etwas von dem er wusste, dass weder sie noch er es jemals akzeptieren würde.

"Also glaubst du wirklich, dass...", er verstummte, "Aber wenn wir irgendwie durch die Zeit gereist sind, würden wir dann nicht eher in unseren eigenen – naja, unseren eigenen älteren Körpern stecken, als in unseren jüngeren?"

"Woher soll ich das wissen?!", fuhr Asuka ihn an. "Ich bin darin genauso wenig ein Experte wie du!"

"Junge, Junge, schon so früh am Streiten?", murmelte Misato müde, als sie auf dem Weg zum Kühlschrank an ihnen vorbeischlurfte...

Misato... schlurfte an ihnen vorbei...

"M-Misato...", flüsterte Shinji ungläubig bei dem Anblick der Frau, die Jahre zuvor gestorben war, um ihn zu retten und nun dort stand und grinste, mit einem frischen Bier in der Hand, als wäre nie etwas passiert. Für einen Moment war die surreale Situation wie vergessen, sein Verstand zu sehr mit der Tatsache beschäftigt, ihr wieder gegenüber zu stehen.

Ohne die Augen von seiner alten Erziehungsberechtigten zu nehmen, schritt er langsam zu ihr herüber und zögerlich, als ob er fürchtete, dass sie sich plötzlich in Luft auflösen könnte, wenn er impulsiv handeln würde, legte er die Arme um den überraschten Major.

"Hey, hey, dir auch einen guten Morgen", murmelte sie amüsiert und zerstörte damit den Moment.

Wie ein Steinschlag kam die Realität wieder auf ihn heruntergestürzt und er nahm langsam wieder Abstand. "Ähm... tut mir leid...", murmelte er, "Ich wollte nur..."

"Alles in Ordnung?"

Er blinzelte und sah überrascht zu ihr auf.

Misato grinste ihn an, als sie an ihm vorbei zu ihrem Stuhl ging. "Naja, du wärst nach sowas normalerweise rot wie eine Tomate", erklärte sie. "Fühlen wir uns heute etwa ein wenig männlich?"

Shinjis Schultern sackten herab. Er hatte es bereits erwartet, aber nun war es offensichtlich, dass sie sich nicht in derselben Lage fand und auch nicht wissen würde was vor sich ging. "Nein", schüttelte er den Kopf. "Nicht wirklich."

Ein flüchtiger Blick zu Asuka reichte, um daraus eine zeitweilige Übereinkunft zu machen. Es war vermutlich die beste Entscheidung, ihrem alten Aufpasser nichts von ihrer Situation zu erzählen, solange sie selbst nicht die geringste Ahnung hatten was vor sich ging.

"Und überhaupt, was ist eigentlich los mit euch zwei?", fragte Misato, als würde sie ihre Gedanken lesen. "Noch kein Frühstück? Solltet ihr euch nicht langsam für die Schule fertig machen?"

Schule? Er sah zu Asuka hinüber und fand in ihren Augen einen ähnlich beunruhigten Blick vor, wie er vermutlich auch gerade in seinen war. Nein, Schule kam im Moment überhaupt nicht in Frage. Es gab zu viel zu entscheiden, bevor auch nur einer von ihnen in der Lage war – wieder – in die Schule zu gehen.

"Misato... Asuka... fühlt sich heute nicht so gut. Würde es dir was ausmachen, wenn wir heute zuhause bleiben?"

"'Wir'?", wiederholte Misato, ihre Augen huschten von einem zu anderen und wieder zurück.

"Naja, Ich... ähh... dachte es wäre besser, wenn jemand hier ist... für den Fall, dass sie etwas braucht... Und da du zu NERV musst..."

Misatos erst überraschter Blick verwandelte sich schnell in ein Grinsen, das sich hinter der Bierdose ausbreitete. "Also wollt ihr beide zusammen die Schule schwänzen?", fragte sie neckisch. "Wollt ganz allein, den ganzen Tag zuhause bleiben? Ich hoffe, dass ihr euch gut darauf vorbereitet habt. Wir können keinen schwangeren Piloten gebrauchen, wisst ihr?"

Ihr Grinsen ließ nach, als die erwartete Reaktion ausblieb. Sie konnte nicht wissen, dass das, was eigentlich ein Witz sein sollte, die beiden nur noch mehr an die schmerzhafte Situation erinnerte.

"Hm? Kein wütendes Abstreiten, Flüche und Todesdrohungen? Du musst wirklich krank sein", schloss sie in halb entschuldigendem Tonfall.

Doch dann erstarrte sie plötzlich, erbleichend und richtete ihren ängstlichen Blick auf Asuka. "Du... du bist nicht wirklich Schwanger, oder?"

Asuka ballte die Hände zu Fäusten, aber sie schaffte es nicht ihr Zittern zu verbergen, so wie sie ihre Augen hinter ihren Haaren verbarg. "Nein", presste sie durch zusammengepresste Zähne hindurch und erstickte fast an diesem einen Wort.

Misato lächelte Nervös, immer noch unsicher über die ungewöhnliche Situation. "Nun ja... ihr beide seit viel mehr Stress ausgesetzt als andere Kinder in eurem Alter. Ich denke es ist nicht allzu überraschend, wenn ihr euch ein bisschen ausgebrannt fühlt", schloss sie aus Asukas gesenktem Blick. "In Ordnung, da eure Noten im Moment ganz gut sind, wird euch ein freier Tag wohl nicht schaden. Aber wenn jemand fragt, dann hattest du mindestens erhöhte Temperatur", zwinkerte sie ihnen zu, bevor sie einen Blick auf die Uhr warf.

Sie stöhnte und legte ihre rechte Hand auf ihre Stirn. "Vielleicht sollte ich auch anfangen mich etwas fiebrig zu fühlen", jammerte der Major in Aussicht auf einen viel zu früh beginnenden Arbeitstag, als sie aufstand um sich fertig zu machen. "Aber die von der Aufklärungs-Abteilung werden mir vermutlich den Kopf abreißen, wenn sie heute nicht meine Berichte bekommen."


*********


Sie hatten kaum ein weiteres Wort zu Misato gesagt, das sie hätte neugierig machen können, aber nachdem sie gegangen war, änderte sich auch nicht viel daran. Schweigend saß Shinji da und warf höchstens hin und wieder einen flüchtigen Blick auf die andere Seite des Tisches. Die Episode mit Misato war nicht viel mehr als eine kurze Ablenkung von dem Wirbelsturm in seinem Kopf und noch viel weniger von dem Schmerz in seiner Brust gewesen.

Aber das Schweigen würde ihnen auch nicht weiterhelfen, es machte es nur schlimmer. Es wurde erdrückend. Und am Ende fühlte es sich an, als könnte er nicht mehr atmen. Ein Teil von ihm wollte davor weglaufen, aber er wusste nur zu gut, dass es nichts helfen würde. Er musste das Schweigen durchbrechen, etwas sagen, bevor es unerträglich wurde.

"Also... was werden wir jetzt machen?"

Zuerst dachte Shinji sie würde selbst noch darüber nachdenken, aber als die regungslose Gestalt seiner verjüngten Frau, die auf ihrem Stuhl zusammengesackt da saß, keine Anzeichen einer Reaktion zeigte, bezweifelte er, dass sie ihn überhaupt gehört hatte.

"Asuka, was...?"

"Woher soll ich das wissen?"

Er seufzte. Nachdem die Welt zugrunde gegangen war, selbst nach so einer unglaublichen Katastrophe, hatte sie fast sofort ihre professionelle Haltung eingenommen, hatte sie beiden angetrieben, Pläne gemacht, sich um alles Notwendige gekümmert, bevor sie sich erlaubt hatte die traumatischen Ereignisse des Third Impact an sich heran zu lassen. Sie hatte wieder so stark gewirkt, genauso stark wie vor der verheerenden Begegnung mit dem fünfzehnten Engel.

Aber nun...

Nun wirkte es genau wie damals, wie die Nachwirkungen dieses entsetzlichen Angriffs auf ihren Geist, als er nur zusehen konnte, wie das Leben aus ihr heraus sickerte. Vielleicht sogar schlimmer. Diese hohle Stimme, mit der sie ihn unterbrochen hatte, die Bitterkeit, die in jedem Wort mitschwang, das sie sagte, ohne sich auch nur einen Fingerbreit zu bewegen, all das waren Eigenschaften der Asuka, die er am meisten hasste. Der Asuka, der alles egal war. Der Asuka, die aufgegeben hatte.

Wie konnte sie nur? Wie konnte sie nur aufgeben, wo Aki...

"Wir... wir sollten Dr. Akagi fragen. Vielleicht weiß sie wie wir... wieder zurück kommen, oder...", er verstummte, seufzte leise, "oder sie hier her bekommen..."

Asuka belächelte seine Idee nur. "Zeitreisen sind praktisch unmöglich. Und Akagi ist nicht einmal ein Experte auf dem Gebiet. Eine große Hilfe würde sie sein..."

"Aber es muss doch möglich sein", protestierte er. "Ich meine – wir sind doch der beste Beweis dafür, oder?"

"Und was glaubst du, würde uns das bringen?", fuhr sie ihn an, ein Teil ihres Feuers endlich wieder aufflammend. "Sie würden uns entweder für verrückt erklären oder uns wie Laborratten untersuchen und an uns herumexperimentieren. Also warum glaubst du sollte uns irgendwer bei etwas helfen, was die Wissenschaft für unmöglich hält? Es sei denn natürlich, du hättest eine handliche Möglichkeit parat, schneller als das Licht zu werden!"

"Aber... sollen wir uns einfach zurücklehnen und aufgeben? I-Ich meine, wir müssen es sowieso jemandem erzählen! Wir müssen unser Bestes tun, damit es nicht noch einmal passiert! Wir müssen die Leute warnen!"

"Hörst du dir überhaupt selbst zu?"

"Aber wir müssen doch irgendwas...!"

"UND WAS SOLL DAS BRINGEN?!", schrie Asuka plötzlich aus reiner Frustration. "Warum sollte ich das alles nochmal durchmachen?! Warum sollte ich alles in meiner Macht stehende tun, diese Welt besser zu machen, wenn sie mir alles genommen hat?! Nur damit sie am Ende noch einmal untergeht?"

Er konnte nicht glauben was er da hörte. "Also... hast du wirklich schon aufgegeben?", murmelte er, den Kopf schüttelnd. "Was wenn sie doch mit uns gekommen ist? Sollten wir nicht... nach Hause gehen? Nach draußen? Versuchen sie zu finden?"

"Sie ist nicht hier...", flüsterte sie, im Wiederspruch zu ihrem vorherigen Ausbruch Schluchzer zurückhaltend, den Kopf schüttelnd, als sie sich zurück auf den Stuhl fallen ließ, "Ich... kann sie nicht... fühlen. Sie ist nicht hier."

"Asuka...", seufzte Shinji ein wenig erleichtert, wenn auch betrübt. Aber er wusste, dass es nichts bringen würde mit Asuka um ihren Glauben an ihre natürlichen Mutterinstinkte und deren Grenzen zu streiten.

Sie zitterte am ganzen Leib und ihre Stimme war brüchig. "Glaubst... glaubst du wirklich, ich würde es so einfach akzeptieren wollen? Dass ich bei so einer Sache so leicht aufgeben würde?" Ihre Tränen tropften nun ungehindert auf den Tisch und jede weitere ließ Shinjis Herz ein wenig mehr schmerzen. "Aber... aber je mehr ich darüber nachdenke, desto weniger kann ich eine Lösung erkennen."

Als es unerträglich mit anzusehen wurde, ging Shinji sofort zu ihr herüber und nahm sie in den Arm. Er fühlte sich schuldig als er realisierte, wie egoistisch seine Absichten gewesen waren. Er fühlte ihre warme, weiche Haut, als sie sich an seine Brust lehnte und ihre Arme um ihn schlang. Doch als er merkte, wie sie sich langsam beruhigte, als er mit einer Hand langsam über ihren Rücken strich, wurde er daran erinnert, dass sie ihn im Moment genauso brauchte wie er sie.

"Was ist mit Misato?", versuchte er es nach einer Weile vorsichtig erneut. "Wir könnten es wenigstens ihr erzählen."

Doch Asuka schüttelte den Kopf, bevor er seine Idee überhaupt zu ende aussprechen konnte. "Sie sorgt sich bereits mehr um uns, als es für jemanden in ihrer Position gut ist", murmelte sie. "Wenn sie wüsste was wir in den kommenden Kämpfen ertragen müssen, würde sie vielleicht versuchen einen Weg zu finden, um uns von ihnen fern zu halten, wodurch wahrscheinlich alles nur noch schlimmer werden würde."


*********


Nach ihrer Auseinandersetzung verbrachten sie den größten Teil des Tages in Schweigen. Sie bewegten sich kaum von dem Tisch fort, während die Zeit qualvoll langsam verstrich. Die Mittagszeit kam und ging, aber obwohl die beiden bereits das Frühstück übersprungen hatten, hatte keiner von ihnen einen großen Appetit. Alles was sie taten, war nachdenken.

Und Asuka hasste es. Sie konnte, wollte nicht nachdenken, mit diesem schwarzen Loch, das ihr Herz von innen heraus auffraß. Wann immer ihre Gedanken begannen abzuschweifen, kamen sie immer wieder zu demselben unmöglichen Schluss: Aki war fort. Eine so vollkommen surreale Katastrophe hatte sie getroffen und das Fundament ihres Glückes in Trümmer gelegt.

Jeder Faser ihres Seins lehnte sich gegen diese Tatsache, schrie heraus, dass es nur ein schrecklicher Albtraum war, oder der grausame Scherz eines höheren Wesens. Aber sie wusste es, seit dem Moment, in dem sie ohne Shinji neben sich aufgewacht war, seit sie bemerkt hatte wo sie war, in welchem Zustand sie war. Sie hatte nur ihre Augen öffnen müssen, um es zu wissen. Dies war real. Sie konnte nicht erklären wie oder warum, aber sie wusste es war real.

Aki war fort.

Als sie noch ein Kind war, war es niederschmetternd gewesen, ihre Mutter zu verlieren. Die wichtigste Person in ihrem Leben zu dieser Zeit, die Person, die sie am meisten liebte und von der sie als Gegenleistung nichts als Aufmerksamkeit verlangte.

Jetzt, als Mutter, hatte sie auch ihr Kind verloren und wieder wurde die Person, die ihrem Herzen am nächsten war, aus ihrem Leben gerissen, weil sie es nicht geschafft hatte, sie vor dieser unbekannten Bedrohung zu beschützen. Aber die Schuldgefühle waren nichts im Vergleich zu der Leere in ihrem Herzen.

Vielleicht gab es diesen Fluch, von dem sie Shinji einmal erzählt hatte, wirklich. Ein Fluch der direkt auf das Band zwischen Mutter und Kind zielte und es lange vor seiner Zeit auf die grausamste Art und Weise durchtrennte.

Beide zuckten überrascht zusammen, für den Bruchteil einer Sekunde erschrocken durch das laute, inzwischen so ungewohnte Geräusch, bevor sie sich daran erinnerten, dass es die Türklingel war.

"Wer... wer könnte das sein?", wunderte sich Shinji, von seinem Stuhl aufstehend, um an die Tür zu gehen.

Doch Asuka zeigte nicht die geringste Neugier. "Ist das wichtig?", murmelte sie, aber mehr zu sich selbst, da er schon außer Reichweite war.

Einen Moment später hörte sie das Zischen der sich öffnenden Tür, gefolgt von Shinjis überraschtem Keuchen. "Oh? Ha-hallo."

"Hi. Katsuragi hat mir gesagt, ich solle mal vorbeischauen und nach euch sehen, wenn ich Zeit habe."

Diese Stimme...? Nein, das konnte nicht sein...

Und doch fand sie sich gleich darauf auf ihren Füßen wieder, die sie fast von selbst zum Flur führten.

"K-Kaji...?" Asuka konnte nichts anderen tun, als den Mann mit dem Pferdeschwanz anzustarren, ihre Augen huschten nervös herüber zu Shinji neben ihm. Selten hatte sie sich so unsicher gefühlt, wie in diesem Moment, dieser Situation, von der sie nicht einmal daran gedacht hatte, sich darauf vorzubereiten. Sie hatte überhaupt nicht darüber nachgedacht, dass all das auch bedeuten würde, dass auch er hier wäre.

Sie konnte nicht Abstreiten, dass dort ein Anflug von Eifersucht gewesen war, als Shinji Misato so liebevoll umarmt hatte. Ein Gefühl, das sie seit Jahren nicht gehabt hatte. Wenn das einzige andere weibliche Wesen auf dem Planeten, das um die Liebe des Ehemannes buhlte, die eigene Tochter war, gab es nicht viel Anlass für solche Gefühle. Doch obwohl sie ihre alte Erziehungsberechtigte manchmal selbst vermisst hatte und obwohl sie wusste, wie Shinji zu Misato stand und wie zu ihr selbst, hatte die Szene es schmerzhaft deutlich gemacht, dass sie ihn von nun an wieder zu einem gewissen Grad mit anderen Leuten teilen musste. Auch mit welchen, mit denen sie es nicht wollte. Es war schwerer als sie gedacht hätte, sich nicht von den aufkommenden, alten Gefühlen überwältigen zu lassen und wieder in die Gegenwart zu finden.

Und nun stand dort der Mann, den sie so viele Jahre bewundert hatte und wurde dadurch mit der anderen Seite der Medaille konfrontiert. Sie konnte sich noch daran erinnern wie sehr sie sich nach seiner Aufmerksamkeit gesehnt hatte und dass er sie als eine Erwachsene akzeptiert, wie sehr sie mit diesem Adonis von einem Mann ihre Erfüllung finden wollte, in dem Ausmaß einer wahnhaften Schwärmerei. Sie konnte sich noch immer an die Trauer, Wut und die Ablehnung nach seinem plötzlichen 'Verschwinden' erinnern, selbst nachdem Shinji ihr geradeheraus gesagt hatte, er sei tot.

Und sie hatte ihn auch – und sie konnte sich daraufhin ein leichtes Lächeln nicht verkneifen – attraktiver in Erinnerung.


*********


Kaji blieb nicht lange, bevor er wieder zur Arbeit musste, jedoch nicht ohne Shinji noch einmal zur Seite zu nehmen, als sie die Tür erreichten.

"Ich war mir nicht sicher, wie ich diese plötzliche Krankheitsgeschichte auffassen sollte", gab er leise zu und warf einen letzten Blick auf den Rotschopf. "Aber ich glaube, dass es diesmal mehr ist, als ihre üblichen Krämpfe." Ein verspieltes Grinsen schlich sich in sein Gesicht. "Sie hat nicht mal versucht sich an mich ranzuschmeißen."

"Ich... ich weiß Herr Kaji", stimmte Shinji zu.

"Und du scheinst mir heute auch nicht du selbst zu sein."

"Äh?" Ahnte er etwa etwas? Hatte er es vielleicht bereits bemerkt? Es war immerhin sein Job, Geheimnisse zu enthüllen. Shinji wusste, dass Asuka es für besser hielt, keine Hilfe von Außerhalb zu suchen, aber wenn Kaji es allein herausgefunden hätte...

"Ja, Bist du sicher, dass ihr nicht zum Arzt wollt?"

"J-ja", seufzte Shinji und versuchte dabei die Enttäuschung darüber zu verbergen, dass seine Hoffnungen sich gerade in Wohlgefallen aufgelöst hatten. "Ich bin nur... nur ein bisschen müde."

"Müde, hm?" Kaji grinste wissend. "Naja, ich bin dann mal weg. Sie zu, dass du morgen nicht so müde bist."

Mit einem letzten kurzen Winken war der unrasierte Mann auch schon verschwunden und die Tür schloss sich hinter ihm.

Und obwohl seine Worte nicht das bedeuteten, was Shinji gedacht hatte, ließen sie ihn nachdenklich werden.

"Worüber habt ihr geredet?" Asukas Worte bei seiner Rückkehr zu ihr rissen ihn aus seiner Gedankenwelt. Die positiven Effekte, wenn sie auch nur gering waren, die Kajis Besuch bei ihr ausgelöst hatte, waren nicht besonders langlebig.

"Er hat nur bemerkt, dass wir nicht gerade wie unsere alten Ichs sind."

"Unsere alten Ichs?", wiederholte sie murmelnd, bevor sie wieder verstummte und für eine ganze Weile auch nichts mehr sagte.

Shinji versuchte sich in der Küche etwas abzulenken. Er machte jedoch nur eine einfache Suppe als ein verspätetes Mittagessen, da er nicht erwartete, dass sie viel mehr Hunger hatte als er selbst. Er stellte ihr gerade eine Schüssel hin, als sie wieder anfing zu sprechen. "Sie würde mich hassen, weißt du?"

"Hm?" Er konnte ihren Gedankengängen nicht so ganz folgen.

"Mein altes Ich. Sie würde hassen, was aus mir geworden ist. Dass ich Ehefrau und...", ihre Lippen bebten, als sie das Wort heraus zwang, "... und Mutter geworden bin. Mit dir von allen Leuten mein Glück gefunden habe. Sie – ich – wollte nichts von alledem. Alles was zählte war die Beste zu sein. Die beste Pilotin, die beste Schülerin, die Beste in allem und andersrum war nur das Beste gut genug für mich. Eine Familie wäre nur ein Hindernis gewesen. Ich hatte genug damit zu tun mich um mich selbst zu kümmern, ich konnte meine Zeit nicht damit vergeuden mich um andere zu sorgen."

"Also hast du deine Ansichten geändert. Daran ist nichts verwerfliches", versicherte er ihr.

"Aber in gewisser Weise habe ich 'sie' verraten. Alles wofür sie gelebt hat und wofür nicht. Darum würde sie mich hassen. Dafür, dass ich dich akzeptiert habe. Dafür, dass ich mir selbst erlaubt habe, mich in dich zu verlieben. Dafür, dass ich mein neues Leben liebe." Sie lächelte ihn für einen Moment schwach an, als er seine Hände beruhigend auf ihren Rücken legte. "Sie würde mich sogar dafür hassen, dass ich diese Berührung genieße. Ich wüsste nicht, wie ich je wieder sie sein könnte."

"Du machst dein altes Ich schlechter, als es eigentlich war." Er schüttelte den Kopf. "Menschen ändern sich, Asuka. Und besonders, wenn sie erwachsen werden. Das ist völlig normal, selbst wenn es bedeutet alles, an das man geglaubt hat, aus dem Fenster zu werfen. Wir haben aus unseren Fehlern gelernt, wir lernen von den Menschen, denen wir begegnen, wir lernen aus den Erfahrungen, die wir machen. Wenn wir uns an unseren Vorstellungen festklammern und sie niemals hinterfragen oder uns nicht trauen vorwärts zu gehen, weil wir uns vor den unbekannten Folgen fürchten, die so ein Schritt haben kann, würden wir uns ständig mit der Frage herumquälen 'Was wäre wenn...?'."

"Na und?", sagte sie in einem Tonfall, bei dem er sich fragte, ob sie ihm überhaupt zugehört hatte. Scheinbar war es nicht die Antwort gewesen, die sie hatte hören wollen.

Shinji schloss die Augen und überdachte seine Worte. "Sie würde dich nicht hassen. Wenn sie es tun würde, wäre sie niemals zu dir geworden. Ich bezweifle, dass 'er' mich hassen würde. Obwohl es mit Sicherheit eine Überraschung für ihn wäre zu sehen, was einmal aus ihm wird. Aber was noch wichtiger ist: Ich hasse ihn auch nicht. Er hatte zu viel Angst, hatte zu viele Selbstzweifel und verachtete sich selbst dafür. Und trotzdem kann ich ihn dafür nicht hassen, weil ich genau weiß, aus welchen Gründen er so war. Aber... Asuka...", sprach er aus, was ihm durch den Kopf gegangen war, seit Kaji gegangen war. "Weiß du, wenn wir verhindern wollen, dass es irgendjemand bemerkt und sicher gehen, dass es nicht einmal jemand vermutet, dann müssen ganz genau wie unsere alten Ichs handeln." Vorsichtig späte er nach einer Reaktion bei ihr. "Glaubst du wirklich, dass du das kannst?"

Sie antwortete nicht, wandte ihre Augen von ihm ab auf den Boden. Sie wussten beide, was es ihnen in dieser Lage abverlangen würde. Aber während eine Depression für sein altes Ich gar nicht so unpassend war, würde es für sie tausendmal schwieriger sein, ihr feuriges Wesen aufrecht zu erhalten. Zumindest solange es keine Spur von ihrem einzigen Kind gab...



****************



Die Morgensonne schien durch das Fenster, sie hatte sie schon vor einer ganzen Weile geweckt. Aber Asuka hatte sich seitdem nicht bewegt.

Sie wollte sich nicht umdrehen und nach einer anderen Person neben ihr tasten. Sie wollte ihre Augen nicht öffnen, um zu sehen, ob sie sich im Schlafzimmer ihres wunderschönen Zuhauses befand. Sie versuchte, nicht die Geräuschen von draußen, die eigentlich nicht da sein sollten, zu hören. Sie wollte überhaupt nichts tun.

Denn solange sie das tat, konnte sie die Hoffnung aufrechterhalten, dass der vergangene Tag doch nur ein schlechter Traum gewesen war, oder das, was immer auch passiert war, wieder rückgängig gemacht worden war; dass sie zurück in der Welt war, die für manche einsam und verwüstet sein mochte, aber für sie bereits voll war, mit nur den beiden Menschen dort, die das wichtigste in ihrem Leben waren.

Aber die Tränen, die aus ihren Augen rannen, waren Beweis genug, dass ihre Hoffnungen vergebens waren.


*********


Es war laut.

Das war das erste was Shinji auffiel, als sie das Apartmentgebäude verließen; sogar noch vor der intakten Skyline. Das es keine Anzeichen der durch den Third Impact ausgelösten Zerstörungen geben würde war zu erwarten gewesen, aber genauso wie die plötzliche, überwältigende Stille einst unheimlich gewesen war, überrollte ihn die von tausenden Maschinen, hupenden Autos, Baustellen – von Menschen – verursachte Geräuschkulisse.

Auf dem Weg zur Schule trafen sie nicht auf besonders viele Fußgänger, aber nachdem sie für so eine lange Zeit nur zwei andere Menschen gesehen hatten, schien es beinahe unwirklich plötzlich auch nur an einem Dutzend vorbeizulaufen. Nach Jahren der Isolation fühlte es sich plötzlich so an, als wären sie gerade von einer einsamen Insel zurückgekehrt, als hätte die Menschheit einfach ohne sie weitergelebt und nicht sie ohne die Menschheit.

Es war merkwürdig und doch so vertraut, daran zu denken an einer roten Ampel stehen zu bleiben, nach links und rechts zu gucken, bevor man über die Straße ging, oder der Weg zur Schule selbst.

Aber während diese neuen alten Eindrücke auf ihn einwirkten, konnte er sich nicht wirklich auf nur einen davon konzentrieren. Immer wieder wanderten seine Augen zu dem jungen Mädchen neben sich, das noch vor zwei Tagen seine Ehefrau und die Mutter seines Kindes gewesen war. Mehr als einmal hatte er sie schon fragen wollen, ob sie sich wirklich bereit hierfür fühlte. Aber er würde lügen, würde er sagen, dass er selbst auch nur annähernd bereit dafür war. Sie konnten sich nicht ewig verstecken. Früher oder später mussten sie ihnen gegenübertreten.

Er schreckte kurz auf, als er ihre Hand an seiner fühlte, wie sie ihre Finger in seine verschränkte. Sie sagte kein Wort und hielt ihren stoischen Blick geradeaus, doch er verstand es auch so. Er zeigte seine Dankbarkeit, indem er den leichten Druck erwiderte. Es wäre nicht klug sich so sehen zu lassen, aber sie ließen nicht voneinander ab, bis sie nur noch einen Block von der Schule entfernt waren.

Von da an lief Shinji ein Stückchen voraus, so wie sie es zuvor entschieden hatten. Es war nicht ungewöhnlich für Asuka, sich nicht mit ihm blicken zu lassen, also würde es sicherlich weniger Fragen aufwerfen, als wenn sie Seite an Seite in die Schule kamen. Und das Letzte, was sie heute brauchten, waren dumme Fragen.

Als er schließlich den Klassenraum der 2-A betrat, verspürte er erneut diese zweifelhafte Freude, als er sich mit so vielen bekannten Gesichtern konfrontiert sah. Drei von ihnen stachen besonders aus der Masse hervor.

Er kämpfte hart mit sich selbst, um nicht zu ihnen hinüber zu stürmen und die Szene seiner Wiedervereinigung mit Misato, zumindest bei den Jungen, die einmal seine besten – und für eine lange Zeit einzigen – Freunde gewesen waren, zu wiederholen. Es war jedoch die dritte Person, die zu ihm eilte, während er sich auf dem Weg zu seinem Tisch befand.

"Wo wart ihr gestern?", verlangte die, wie immer strenge, Klassensprecherin Hikari Horaki zu wissen.

"Äh? Wurden wir nicht entschuldigt?", wunderte sich Shinji und versuchte sich an ihre Ausrede zu erinnern. "Asuka war krank und..."

Ein harter Schlag auf seine Schulter schubste ihn ein Stück nach vorn. "Ja, klar", fiel Touji ihm ins Wort, mit einem großspurigen Grinsen im Gesicht. "Seit wann musst du auf sie aufpassen, wenn es ihr nicht gut geht? Komm sag schon Ikari: Wie war sie?"

Shinji musste nun selbst ein Grinsen unterdrücken, als er den Drang niederkämpfte ihn ein wenig zu überraschen, indem er ihm detailliert berichtete, wie gut "es" über die Jugendfantasien des Jungen hinaus war. Aber er ermahnte sich selbst, dass er für alle außer Asuka und ihn selbst, derselbe schüchterne und naive Junge war, den sie in den vorangehenden Monaten kennen gelernt hatten. Seine Antwort war entsprechend kurz.

"Häh?"

"Oh, wen versuchst du auf den Arm zu nehmen? Ich kann nicht sagen, dass ich sehr zufrieden mit deiner Wahl bin, aber ich denke der Charakter ist zu vernachlässigen, wenn der Körper okay ist. Also... was hat sich am besten angefühlt? Die Brüste, oder? So weich und griffig..."

"Äh... was...?" Shinji musste sich nicht einmal anstrengen um zu erröten. Jedoch weniger wegen der Anspielungen, als wegen des peinlichen Gesabbers, als Touji fortfuhr aufzulisten und zu beschreiben wie sich – zumindest seiner Erwartung nach – die verschiedenen weiblichen Körperteile anfühlten. Der verträumte Blick wurde jedoch auf der Stelle von einem angsterfüllten ersetzt, als ihn eine tosende weibliche Person auf sich aufmerksam machte.

"Suzuhara!", rief Hikari warnend und nahm sein Ohr sogleich in einen schmerzhaften Klammergriff.

"Auauau, verdammt, Klassensprecherin, was ist los?", jammerte er, bis das brünette Mädchen ihn wiederwillig entließ.

"Du musst den Blumen noch Wasser geben!"

"Schon wieder?! Au!" Keinen Schwachpunkt in ihrem Vorwand zulassend, um ihn daran zu hindern Dinge zu tun, durch die sie ihn weniger mögen könnte, schleifte sie ihn hinter sich her.

"Er wird es nie lernen", lachte Kensuke auf diese Zurschaustellung hin, doch jede Hoffnung, er würde Shinjis Geschichte eher glauben, als ihr vor Testosteron überschäumender Freund, war vergebens. "Also, wo wart ihr wirklich?"

"Aber ich habe doch gerade gesagt..."

"Es hat etwas mit NERV zu tun, oder? Etwas das so geheim ist, dass ihr nicht einmal das zugeben könnt."

Shinji seufzte innerlich. Er konnte sich noch gut genug an Kensuke erinnern, um zu wissen, dass er, egal was er sagen würde, den bebrillten Jungen kaum an seiner Suche nach der Wahrheit hinter diesem Geheimnis hindern könnte. Verzweifelt nach einem Ausweg suchend, sah er Asuka in der Tür stehen, die die Szene anscheinend von dort aus beobachtet hatte.

"Öhm... klar... weißt du was, ich habe noch etwas Wichtiges mit Asuka zu besprechen...", murmelte er eilig und stahl sich zu seiner Frau davon. Mit dem Rücken zur Klasse stehend, erlaubte er sich tief durch zu atmen.

"Harter Start?", schloss Asuka daraus, die Augen in den Raum gerichtet.

"Ich schätze, dass war zu erwarten. Aber trotzdem...", murmelte er, den Kopf schüttelnd als er leise Seufzte. "Es ist merkwürdig. Sie sind genauso, wie ich sie in Erinnerung habe und doch..."

"... scheinen sie so jung", beendet Asuka den Satz mit einem Nicken.

"Hey, was habt ihr zwei Turteltäubchen da zu flüstern?", rief Touji zu ihnen herüber.

"Darüber, was für eine unreifes Schwein du bist!", bellte Asuka zurück, in dem Versuch ihren alten Kampfgeist wiederzuerwecken, aber für Shinji wirkte es zu erzwungen.

In diesem Moment bemerkte er, wie Asuka kaum merkbar zuckte und als er ihrem Blick folgte, verstand er nur zu gut warum.

Dort war sie, das ewige Rätsel: geklont aus den Überresten seiner Mutter, zum Teil ein Engel, mit der Macht, jedes menschliche Wesen auf dem Planeten zurück ins Nichts zu führen. Nachdem er sie für Jahre nur in der gigantischen Form gesehen hatte, die sie am Ende angenommen hatte, schien es unmöglich zu sein, das zierliche vierzehnjährige Mädchen jemals in demselben Licht zu sehen.

Es fühlte sich mehr als nur merkwürdig an, sie an ihnen vorbeigehen zu sehen, als sie hereinkam, zu ihrem Tisch ging, ihre Tasche an den Haken an dessen Seite hängte und sich setzte. Sogar die Art und Weise wie sie ihren Kopf auf ihre Hand legte und ihren Blick vom inneren des Klassenraums durch das Fenstern wandern ließ; es wirkte so... normal.

Sicherlich hatte Rei schon immer etwas Mysteriöses oder, abhängig vom Standpunkt, Merkwürdiges, an sich gehabt. Aber es hatte nie einen wirklichen Zweifel daran gegeben, dass sie, wenn sie auch verschlossen, vielleicht sogar apathisch war und trotz ihres einzigartigen Äußeren ein "normales" menschliches Wesen war.

Ganz plötzlich wirkte es so viel schwerer seinem Plan zu folgen.



****************



Asuka starrte die Dose an, die vor ihr auf dem Tisch stand. Sie war durstig gewesen, als sie von der Schule nach Hause gekommen war; ohne Shinji, der Ordnungsdienst hatte. Aber sobald sie sich an den Küchentisch gesetzt hatte, fand sie sich nicht in der Lage, die Limonade an ihre Lippen zu bewegen. Tatsächlich fühlte sie sich nicht in der Lage, sich überhaupt zu bewegen.

Es waren inzwischen nur ein paar Tage vergangen, aber sie fühlte sich so müde und ausgelaugt. Sie hatte versucht so zu tun, als wäre alles in Ordnung, aber wie konnte sie das durchstehen, wenn überhaupt nichts in Ordnung war? Sich frech und arrogant aufzuführen war einmal ihr natürlicher Schild gewesen, mit dem sie ihren Schmerz vor anderen verborgen hatte, aber diesen Schild zu errichten, war ein langsamer und schleichender Prozess gewesen, der schon lange vor dem Tod ihrer Mutter begonnen hatte, sogar noch bevor sie ihren Verstand verloren hatte. Das hier war jedoch ohne Vorwarnung gekommen und hatte sie betäubt, bevor sie auch nur daran hätte denken können, sich darauf vorzubereiten.

Sie konnte es einfach nicht aus ihren Gedanken verdrängen. Egal wo sie war, oder was sie sah, alles erinnerte sie irgendwie an Aki. Wie konnte sie dem Unterricht folgen, wenn alles woran sie denken konnte, dieses Lächeln war, das sie vielleicht nie wieder sehen würde, oder der kleine warme Körper ihres kleinen Engels, den sie wohl nie wieder in den Armen halten würde.

Sogar ein Blick auf die Uhr. Halb fünf. Und alles woran sie denken konnte war, dass sie Aki in zwei Stunden sagen müsste, dass sie sich die Zähne putzen und bettfertig machen sollte, wobei es dann noch mindestens eine weitere Stunde dauern würde, bis sie endlich eingeschlafen war.

"Immer noch nicht ganz fit?"

Asuka schreckte aus ihren Gedanken hoch. Bis jetzt hatte sie nicht gemerkt, wie sehr ihre Hände zitterten und sogar die Dose leicht eingedrückt hatten, die sie die ganze Zeit über gehalten hatte.

Misato lief an ihr vorbei zum Kühlschrank, aus dem sie sich ein Bier holte. Asuka hatte nicht einmal bemerkt, dass sie nach Hause gekommen war. "Wenn du dich immer noch nicht besser fühlst...", fuhr die besorgte Frau fort, die Dose öffnend, als sie sich auf der anderen Seite des Tisches niederließ, "Sicher, dass du nicht zum Arzt willst?"

"Ja, bin ich!", grummelte Asuka leise, versuchend einfach nur gereizt zu wirken. Aber sie schaffte es nur für wenige Sekunden den Schein zu wahren, bevor sie mit einem erschöpften Seufzen vornüber zusammensackte, den Kopf mit den Händen abstützend. "Ich fühle mich nur..."

"Ausgebrannt?", beendet Misato den Satz für sie. "Naja, das passiert hin und wieder. Aber wie ich dich kenne, wirst du dich wahrscheinlich besser fühlen, wenn du erstmal wieder in deinem EVA sitzt."

"Mein EVA?" Asuka sah zu ihr auf, fast schon geschockt. Daran hatte sie noch gar nicht gedacht.

"Hast du es etwa vergessen? Ihr zwei habt heute einen Synch-Test. Das heißt, wenn du dich dafür nicht zu schlecht fühlst. Sie sind immer noch ein bisschen empfindlich, was diesen 'Vorfall' angeht, obwohl sie die ganze Anlage auseinandergenommen haben, deshalb stehen die Testplugs nicht zur Verfügung, selbst wenn sie alles schon wieder aufgebaut hätten."

"Vorfall?", sinnierte Asuka, mehr zu sich selbst. Plötzlich fiel ihr auf, dass sie beide – oder zumindest sie selbst – noch gar nicht darüber nachgedacht hatten, in welchen Zeitabschnitt genau sie zurückgekehrt waren. Sie hatte das Datum gesehen, aber das sagte ihr nicht besonders viel. Und die Schule war zu alltäglich gewesen, als das sich irgendwelche Anhaltspunkte eingeprägt hätten. Der einzige 'Vorfall' mit den Test-Plugs, an den sie sich erinnern konnte, war, als sie mit ihnen aus der Testkammer geschossen wurden, während sie noch nackt darin saßen.

Das bedeutete, dass dieser Schattenengel der nächste sein würde. Der in dem...

"Und immer noch so launisch...", kommentierte Misato mit einem mitleidigen Blick, den sie schnell durch ein vorsichtiges Grinsen ersetzte. "Angst, dass Shinji dich endlich schlagen könnte? Er hat in letzter Zeit ganz schön aufgeholt."

"Nein, das ist es nicht...", begann Asuka leise, bevor sie sich an ihre Rolle erinnerte. Sie hätte es damals nicht einfach nur abgestritten, oder? "Ich meine: natürlich nicht! Diese... Tests sind einfach nur langweilig, das ist alles. Es wissen sowieso schon alle, dass ich die beste bin!"

Wie kindisch...



****************



"Das wir die nochmal tragen würden", murmelte Shinji, müde lächelnd als er an sich herab auf den grauen und blauen Plugsuit sah.

Doch Asuka war nicht danach, so eine Belanglosigkeit mit einem Kommentar zur würdigen. Sie lehnte sich mit dem Rücken an die Seitenwand des Aufzuges, der die Piloten zu der Gangway führte, über die sie ihre Entryplugs erreichen würden. Es war nicht so, dass sie ihn ignorierte, auch wenn es so schien – so wie sie es beabsichtigte – konnte sie ihn nur zu gut verstehen.

Es war sogar noch schlimmer, als der Tag, an dem sie ihre alte Schuluniform zum ersten Mal wieder angelegt hatte. Dieses luftdichte rote Outfit, das sich eng an ihre Haut legte; sie hatte es mit Stolz als ein Symbol ihres Ranges und Status als Pilotin getragen, aber nun erinnerte es sie nur noch an ein Leben, das sie mit Freude hinter sich gelassen hatte, als sie endlich die Möglichkeit dazu hatte. Als sie den Mechanismus betätigt hatte, der den Anzug dazu brachte sich um sie zusammen zu ziehen, bis keine störende Luft mehr zwischen ihrem Körper und dem leitenden Material war, hatte sie sich beinahe gefühlt, als wäre sie darin gefangen.

"Asuka?"

"Tut mir leid Shinji, ich bin nicht in der Stimmung für Small-Talk", zischte sie leise, wissend dass er sonst nicht aufhören würde.

"'tschuldigung..." Shinji wusste, wie er den Tonfall hinter den höflichen Worten zu interpretieren hatte. "Ich dachte nur es würde helfen und für ein bisschen Ermutigung zu sorgen."

"Wer sagt, dass ich Ermutigung brauche?", murmelte sie vor sich hin.

"Hey, ich meinte das nicht nur für dich. I-Ich bin auch nervös. Immerhin habe ich niemals wirklich..."

"Nervös?", fuhr Asuka ihn an, sich von der Wand des Aufzuges abstoßend und in die Richtung der Cages deutend. "Meine Mutter ist da drin! Als ich das erfahren habe, hatte ich nur wenige Minuten und war zu beschäftigt, um das alles völlig zu begreifen. Und nun soll ich plötzlich für mehrere Stunden bei ihr sein. Wie soll ich das unterdrücken? Selbst wenn ich das wollte, ich weiß nicht, ob ich sie wieder abblocken könnte."

"Aber... warum solltest du?", fragte ein verwirrter Shinji.

Asuka entwich ein wütendes Seufzen. Das er da nicht selbst drauf kommen konnte... "Glaubst du nicht, dass sie bemerken werden, wenn unsere Synchronwerte über Nacht plötzlich durch die Decke gehen?"

"Wäre das nicht genau das, was wir brauchen? Ein Beweis, den wir benutzen könnten, um unsere Geschichte zu betätigen? Wir könnten es ihnen sagen."

"Ich dachte darüber hätten wir bereits gesprochen. Sie würden eher nach einer realistischeren Erklärung suchen, als Zeit..." Eine Bewegung aus weiß und blau in ihrem Augenwinkel ließ sie plötzlich verstummen.

Aber falls Rei zu viel gehört hatte, als sie den Aufzug betreten hatte, ließ sie es sich nicht anmerken. Natürlich wäre es auch eine Überraschung gewesen, wenn sie etwas anderes getan hätte, als ihren Platz vor den Aufzugtüren einzunehmen und auf die Ankunft zu warten.


*********


"Tja Leute, ist ne Weile her, dass ihr das letzte Mal die Chance hattet, da drin zu sein, hm?", kam Misatos Stimme durch das Komm.

Asuka zuckte auf die Ironie dieser Worte hin. Es war in der Tat eine ganze Weile gewesen, obwohl der Major nur auf die zwei, drei Wochen seit dem letzen Engel anspielte – oder war es dieser Kompatibilitätstest? War das nicht irgendwann um diese Zeit gewesen? Vielleicht sogar heute? Oder würde er erst noch kommen? Sie hatten so viele Tests gemacht, dass sie sich nicht wirklich erinnern konnte.

"Gewöhnt euch nicht zu sehr daran", riss Dr. Akagi sie aus ihren Gedanken. "Ich habe für nächste Woche einen weiteren Test in der neuen Pribnow Box angesetzt und bin zuversichtlich, grünes Licht dafür zu bekommen."

"Bringen wir's einfach hinter uns", murmelte Asuka zu sich selbst, bevor ihr bewusst wurde, dass sie das auch hätte laut sagen können. Aber sie bekam nicht die Chance die Worte lauter und aggressiver zu wiederholen.

Sie keuchte unwillkürlich, als plötzlich die Verbindung hergestellt wurde. Es war einmal das natürlichste auf der Welt für sie gewesen, aber nun war es wie ein Schock. Sie konnte es wieder fühlen, ihre Hände griffen wie von selbst nach den Kontrollhebeln; sie erinnerte sich ganz genau daran, was sie zu tun hatte, was sie zu denken hatte, wie sie zu denken hatte, um den Giganten unter sich kontrollieren zu können. Aber am wichtigsten war, sie konnte sie fühlen, ihre warme Präsenz umgab Asuka und tauchte sie in eine Aura purer Glückseligkeit.

"Nein!" Sie schüttelte heftig den Kopf, in dem Versuch der Umarmung zu entkommen, nach der ein Teil von ihr sich so sehr sehnte. "Nein, ich kann nicht. Es tut mir leid... Mama..."

Die Augen fest zukneifend, die langsam begannen vor Tränen zu brennen, zwang sie sich dazu diese intensive Präsenz zu ignorieren, durch die sie sich so unerträglich geborgen fühlte.


*********


"Hast du...?"

Er musste die Frage nicht zu Ende stellen, sie wusste es bereits.

Sie waren allein auf ihrem Weg nach Hause, aber sie hatten kein Wort miteinander gewechselt, erst Recht nicht darüber, was während dem Test geschehen war, bis sie kurz vor dem letzten Stop der Bahn waren, mit der sie fuhren, Seite an Seite sitzend, mit nur wenig Platz zwischen ihnen.

Asuka nickte.

"Ich habe sie auch gespürt", murmelte Shinji, bevor er wieder ruhig wurde.

Wieder war da nur das Rattern des Zuges, während er sich über die Schienen fortbewegte und Minuten vergingen, ohne dass auch nur ein Wort gesprochen wurde.

"Zu... zumindest wissen wir jetzt, das wir wirklich – irgendwie – in der Zeit zurückgereist sind."

"Du glaubst etwas das so mächtig ist, so eine Welt bis ins kleinste Detail zu erschaffen, wäre nicht dazu in der Lage die Seelen unsere Mütter nachzuahmen?", hörte sie sich selbst erwidern.

"Um ehrlich zu sein: nein."

Asuka schluckte das Schluchzen herunter, das dabei war sich in ihrer Kehle zu bilden. Sie wusste es. Sie wusste, dass er recht hatte. Aber das machte es nicht leichter. Sie war sich schon vorher sicher gewesen, doch da war noch immer dieser letzte Rest Hoffnung gewesen. Aber jetzt nicht mehr.

Einen Gegner hätten sie vielleicht irgendwie hätten bekämpfen können. Aber die Zeit war ein Gegner, gegen den sie keine Waffe hatte.

Ein Gegner...?

"Wir haben die Tests in unseren EVAs gemacht, weil es einen Vorfall in der Pribnow Box gegeben hat", erinnerte sie sich. "Das bedeutet der nächste Engel ist dieses Schatten-Ding."

"Ja, ich weiß. In etwas weniger als einer Woche. Vielleicht zwei. Ich habe das Datum am Tag unserer Rückkehr überprüft."

Sein Geständnis überraschte sie ein wenig. "Du erinnerst dich so gut daran in welchem Zeitabschnitt das alles passiert ist?"

"Natürlich", erwiderte er, fast als wäre er schockiert darüber, dass sie es nicht tat. "Der nächste Engel hat kurz nach dem elften Jahrestag angegriffen."

"Der elfte Jahrestag...?", wiederholte Asuka, während sie ihre Erinnerungen durchforstete. Ihre Augen weiteten sich, als sie darauf kam. "Du meinst vom...?"

Shinji nickte. "Vom Tod meiner Mutter", sagte er einfach, bevor er begann schwach zu grinsen. "Oder eher ihrer Absorption."



****************



Es war jetzt schon fast eine Woche her, doch keiner von beiden hatte sich inzwischen wirklich eingewöhnt. Sie gingen zur Schule und zu NERV, wie es von ihnen verlangt wurde und scheinbar reichte es dazu aus, dass nicht einmal ihre engsten Freunde etwas zu ungewöhnliches Bemerkt hätten.

'Vielleicht einer der Vorteile davon, nie besonders extrovertiert gewesen zu sein', dachte Shinji, müde in sich hinein grinsend. Er und ein paar andere waren gerade damit beschäftigt den Boden des Klassenraums zu fegen, während der Rest der Klasse alles andere putzte und aufräumte, als er Rei bemerkte, wie sie am anderen Ende des Raumes kniete und einen nassen Lappen über einem Eimer auswring. Sie so zu sehen, erinnerte ihn daran, wie er sich gefühlt hatte, als er sie damals so gesehen hatte, ohne zu wissen, wie nahe er damit der Wahrheit gekommen war.

'Genau wie...' Er seufzte. '... Mutter...'

Seine Augen weiteten sich, als eine weitere Erinnerung ihn vor Gefahr warnte... zu spät...

*BÄM*

Der Besen schlug hart auf seinem Kopf ein und sofort ging ein stechender Schmerz von der Einschlagstelle aus. In Situationen wie dieser war er froh, dass Touji sein Freund war und nicht sein Feind.

***

"DU! Zurück an die Arbeit!", schrie Hikari von der Tür aus in die Klasse, aber Asuka nahm es kaum war.

"Wirklich, diese Jungs immer..."

Es war nicht so, dass sie die Klassensprecherin ignorierte.

"Jungs? Da war doch was..."

Sie nahm in letzter Zeit viele Dinge kaum war.

"Asuka?"

Sie funktionierte einfach nur.

"Ähm... Asuka?"

Sie schenkte dem zurückhaltenden Ausruf ihrer Freundin immer noch keine besondere Aufmerksamkeit, ihre Augen waren auf den Boden des Flures fixiert, den sie gerade fegte. Es war schwer genug die Tagträume von einem kleinen braunhaarigen Mädchen zu unterdrücken, die um sie herumtanzte und nach Aufmerksamkeit verlangte. Wenn sie ihnen nachgeben würde, dann...

"Asuka, ist alles in Ordnung?"

Endlich realisierte sie, dass sie antworten sollte. "Hm? Ja, ja..."

Ein erleichtertes Seufzen kam von ihrer Freundin. "Gut, ähm... Kann ich dich... naja... um einen Gefallen bitten?"

Der Besen kam zu einem abrupten Halt. Asuka blinzelte auf das plötzliche Gefühl von Déjà-vu hin, versuchte sich daran zu erinnern, was Hikari in einer ähnlichen Situation von ihr gewollt hatte. Die Erinnerung kam schnell zu ihr zurück.

Asuka sah Hikari an und das brünette Mädchen nahm das als ein Zeichen, um fortzufahren. "Weißt du, da ist dieser Freund von Kodama und, naja, er... er..."

"Will mit mir ausgehen", führte Asuka den Satz für sie zu Ende, mit einem leicht verfinsterten Blick.

"Naja... ja..."

Ihre Hände klammerten sich fest um den Besenstiel. "Tut mir leid, ich... kann nicht."

"Äh? Aber du weißt doch noch gar nicht, wann er mit dir ausgehen will", wunderte sich Hikari verwirrt. Doch plötzlich erhellte sich ihr Gesicht, als ihr scheinbar ein Grund für die schnelle Ablehnung ihrer Freundin kam. "Ist da etwa jemand anders?"

Überrascht von dieser Frage, schaffte das erste ehrliche Lächeln seit ihrem Verlust es fast in Asukas Gesicht. Doch es wurde schnell von den hochkommenden Schuldgefühlen erdrückt, die sie wegen der kommenden Verleugnung der letzten Jahre, die sich glücklich mit Shinji verbracht hatte und natürlich mit... "Nein, ich denke nicht", presste sie eilig heraus. "Äh, aber... aber natürlich ist da noch Kaji..."

"Oh bitte", flehte Hikari mit einer leichten Verbeugung. "Es ist nur einmal. Ich bin sicher, dass es Herrn Kaji nichts ausmacht, wenn du einmal mit jemand anderem ausgehst."

'Sogar sie weiß, wie lächerlich das war', bemerkte Asuka an dem schwer zu überhörenden Sarkasmus in dem Kommentar ihrer Freundin. 'Oder sie dachte, dass es mir selbst nicht ernst damit war.'

"Ich schätze, du wirst sowieso nicht aufgeben...", schloss sie.

"Ich habe versprochen mein Bestes zu geben, tut mir leid", erklärte Hikari, merklich beschämt, ihre Entschuldigung ehrlich gemeint. "Wenn ich vorher gewusst hätte, dass du es warst, den ich fragen sollte mit ihm auszugehen, hätte ich nicht zugestimmt."

"Ihr Japaner und eure Ehre...", murmelte Asuka.

"Also wirst du...?", fragte die Klassensprecherin hoffnungsvoll.

"Sag ihm, dass er morgen um fünf zum Vergnügungspark kommen soll", entsann sich Asuka der Verabredung. "Aber ich garantiere für nichts."

Ihrer Freundin schien das nichts auszumachen, da sie viel zu glücklich war, ihren schwierigen Auftrag erfüllt zu haben. "Oh vielen, vielen Dank! Mach die keine Sorgen! Ich bin sicher, dass er ein netter Kerl ist, du wirst also nichts machen müssen, was du nicht willst."

Asuka grunzte leise. Sie wusste bereits was sie nicht wollte.



****************



Es war ein unangenehmes Schweigen im Aufzug, zumindest empfand es Shinji so. Natürlich war er, gelinde gesagt, immer ein wenig reserviert gewesen, aber er war sich sicher, dass er – wenn er es wollte – nun offener mit anderen reden könnte.

Andere, ja. Mit ihr jedoch, war es, als hätte sich nichts verändert.

Er hatte Rei in den letzten Tagen mehr gemieden, als er es vielleicht beabsichtigt hatte. Aber nun, nachdem der letzte Synchtest gerade vorbei und er auf dem Weg nach Hause war, fand er sich getrennt von Asuka und allen anderen vor, "gefangen" allein mit Rei für die Dauer der Fahrt, ohne einen Ausweg.

Es war armselig und er wusste es. All die Jahre hatte er auf so eine Chance gehofft, noch einmal mit ihr reden zu können, Antworten auf Fragen zu bekommen, von denen er nicht einmal wusste, dass er sie hatte, bis es zu spät gewesen war. Und nun stand er dort und tat nichts anderes, als ihren Rücken anzustarren, während sie wie immer genau vor der Aufzugtür stand, unfähig seinen Mund zu öffnen, als sei er versiegelt.

Wovor hatte er Angst? Dass sie sich plötzlich umdrehen und ihn verflüssigen würde? Das war völliger Blödsinn. Vielleicht, dass sie seinem Vater es verraten würde, wenn er zu viel sagte? Nein, er war sicher sich vorsichtig genug ausdrücken zu können, sodass sie keinen Verdacht schöpfen würde. Und selbst wenn sie etwas bemerken würde, würde das nicht gleich bedeuten, dass alles verloren war.

Es war vielleicht einfach nur so, dass sie in seinen Augen ihre Unschuld verloren hatte. Er dachte, dass er das inzwischen verarbeitet hatte, sogar schon kurz, nachdem es passiert war. Aber er stand ihr danach nie gegenüber – nicht bis jetzt. War er wirklich so ein Heuchler? Er wusste, dass er trotzdem mit ihr reden musste, für sie da sein musste, ihr helfen musste. Und er wollte es auch. Das Problem war einfach...

Er wusste nicht wie.

"Hast du Angst vor mir?"

Shinji spürte sich selbst vor Überraschung ein wenig zusammenzucken. Dass sie die Unterhaltung von sich aus begonnen hatte erschrak ihn so sehr, dass er vergaß zu antworten, bis sie fortfuhr. "Du scheinst in meiner Gegenwart... angespannt... zu sein."

"W-Was?", stotterte er, immer noch seine Gedanken sammelnd. Wie konnte sie das wissen? Hatte sie sogar in dieser Form solche Kräfte? Konnte es sein, dass sie es wusste, dass... dass sie es die ganze Zeit über gewesen war? Dann könnte sie ihm sagen, was hier eigentlich vor sich ging.

Sie könnte ihm sagen, wo Aki war.

"Ich hab bemerkt, dass du mich beobachtet hast. Aber während der letzten Woche hast du mich nicht einmal gegrüßt", erklärte sie jedoch und lieferte dadurch eine viel einfachere Begründung. "Und du scheinst nervös zu sein, wenn ich in deiner Nähe bin."

Shinji starrte sie mit offenem Mund an. Er hätte nie gedacht, dass sie ihn so im Auge haben würde.

Ihren Kopf leicht zur Seite drehend, warf sie ihm einen flüchtigen Blick zu. "Du hast dich nicht so verhalten, seit dem Tag an dem du mir meine neue ID-Karte gebracht hast."

Er hatte es lange hinter sich gelassen, ein vor Hormonen sprühender Teenager zu sein, aber er musste doch gegen die Schamesröte ankämpfen, die die Erinnerungen mit sich brachten, die Reis fast nebensächlich gesprochene Worte mit sich brachten.

"Tut mir leid", antwortete er schließlich. "Mir... mir ist in letzter Zeit viel im Kopf rumgegangen."

"Ich verstehe."

Da war weder Trübsinn noch Verwirrung in ihrer Stimme. Shinji wäre nicht überrascht gewesen, wenn sie neugierig wäre, über was er so viel nachgedacht hatte, wusste aber auch, dass sie ihn niemals dazu drängen würde zu reden.

Das brachte ein schwaches Lächeln auf seine Lippen. Sie mochte vielleicht das mächtigste Wesen auf dem Planeten sein, aber er hatte fast vergessen, dass sie trotzdem Rei war. Er hätte es niemals vergessen sollen.

"Aber ich werde versuchen mich zu bessern", versicherte er. "Wenn du das möchtest."

Für eine Sekunde dachte Shinji, er würde eine leichte Rötung auf Reis blassen Wangen wahrnehmen, als sie ihren Kopf abwandte, bevor sie nickte.

Ein Läuten signalisierte, dass der Aufzug sein Ziel erreicht hatte und Rei zögerte keine Sekunde, als die Türen sich öffneten. Shinji folgte ihr aus der Kabine, aber sie würden von nun an sowieso getrennte Wege gehen.

"Und Ayanami", rief er ihr nach, kurz bevor sie außer Sicht war. "Danke."

"Wofür?", hallte ihre leise Stimme zu ihm zurück.

Aber ausnahmsweise entschied Shinji, dass er diesmal derjenige war, der gehen würde, ohne die kryptische Botschaft zu erklären.



****************



Das LCL-Meer war nicht wirklich ein Friedhof gewesen, doch es war der Ort, an dem alle Menschen gewesen waren, die ihm etwas bedeutet hatten und nicht mehr unter ihnen weilten. Es war der Ort gewesen, an den sie gegangen waren um mit ihnen zu reden, oder sich einfach nur zu erinnern. Doch trotz des Wissens um die Milliarden verlorenen Seelen in dem Meer, hatte er sich in dessen Nähe nie so schlecht gefühlt, wie hier, zwischen diesen scheinbar endlosen Reihen aus kalten, schwarzen Grabsteinen.

Shinji war sich nicht einmal sicher, warum er überhaupt gekommen war. Das Datum hatte für ihn schon vor langer Zeit seinen Schrecken verloren. Ein anderes hatte nun seinen Platz eingenommen. Und wenn er seine Mutter besuchen wollte, würde sie ihn in den EVA-Cages eher bemerken, als an einem leeren Grab. Er fühlte sich fast wie ein Idiot, weil er trotzdem einen Strauß Blumen mitgebracht hatte.

Nein, es war eher wegen ihm. Das erste Mal, dass er ihn wiedersehen würde. Als sie hier das letzte Mal miteinander gesprochen hatten, war es die letzte von sehr rar gesäten Gelegenheiten gewesen, offen mit seinem Vater reden zu können. Es war vielleicht eine närrische Hoffnung, aber vielleicht, nur vielleicht, könnte er in der Lage sein ihn zu erreichen.

Asuka wäre vermutlich schon allein bei dem Gedanken daran ausgerastet, obwohl Shinji nicht vor hatte mehr in die Details zu gehen. Sie war schon nicht sehr glücklich gewesen, als er ihr gesagt hatte, dass er zu diesem Treffen gehen würde, wenn auch nur, um die zusätzliche Aufmerksamkeit zu vermeiden, die aufkommen würde, wenn er ein solch wichtiges Datum verstreichen lassen würde, über das einige Leute um ihn herum Bescheid wussten. Nicht, dass sie in letzter Zeit mit überhaupt irgendetwas glücklich gewesen war.

Aber obwohl das Risiko bestand, dass er zu viel sagen könnte, wussten beide, dass dies eine Ausnahme war, eine einmalige Sache, die sich so schnell nicht wiederholen würde.

Er musste es einfach versuchen. Es war nur eine verschwommene Erinnerung eines vagen Traumes, von dem er nicht einmal nicht einmal wusste, ob er so passiert war. Aber er erinnerte sich schwach daran, seinen Vater während des Third Impacts gespürt zu haben, als alle AT-Felder fort gewesen waren und keiner von ihnen etwas verbergen oder abwehren konnte. Er hatte den gebrochenen Mann gesehen, der sein Vater hinter seinen eisigen Schilden war. Und dieser Mann hatte um Shinjis Vergebung gebeten.

Auch wenn Shinji nicht ernsthaft erwartete, dass etwas in dieser Richtung passieren würde; selbst wenn er die Mauern, die seinen Vater umgaben nicht einreißen konnte, vielleicht konnte er sie wenigstens ankratzen.

Da war er. Shinji blinzelte nicht einmal, während die dunkle Silhouette in der Entfernung langsam zu einem großgewachsenen Mann wurde. Die stets präsente Sonnenbrille reflektierte das Licht, verbarg seine Augen. Es ließ Shinji darüber nachdenken, ob er sie vielleicht aus genau diesem Grund nicht durch eine normale Brille ersetzte, dass er bemerkt hatte, dass sie es für die Leute noch schwieriger machte, den Schmerz und die Schwäche in ihm zu sehen.

"Du bist spät, Vater", grüßte er mit mehr Selbstvertrauen, als der andere gewohnt sein sollte. Aber der Commander zeigte keinerlei Überraschung darüber, dass sein schüchterner Sohn nicht einmal wankte, als er auf ihn herab starrte. Wie üblich zeigte er praktisch überhaupt nichts, solange man nicht zählte, dass er kurz stehen blieb, um Notiz von der Anwesenheit des Jungen zu nehmen, bevor er weiter zum Grab seiner Frau ging. Shinji folgte ihm schweigend zu dem Grabstein.

Er wusste, dass dort kein Körper war, aber den Namen seiner Mutter auf dem schwarzen Stein zu lesen ließ ihn unwillkürlich erschauern. Er presste die Augenlieder zusammen und schluckte ein Schluchzen herunter, als er sich für eine Sekunde einen kleineren daneben vorstellte.

Tief durchatmend kniete er sich hin, um den Blumenstrauß auf die glatte Erde des leeren Grabes zu legen.

"Es sind drei Jahre vergangen, seit wir das letzte Mal hier waren", durchbrach die Stimme seine Vaters die Stille.

Shinji erinnerte sich. "Ja, das war als ich weggelaufen bin", zitierte er sich automatisch selbst, seufzte dann aber. "Und du hast nichts unternommen, um mich zurück zu holen."

"Ich war über deinen Aufenthaltsort informiert und du bist wohlbehalten zu deinem Lehrer zurückgekehrt", erwiderte Gendo mit diesem krank machenden Fehlen jedweder Emotionen, das Shinji schon beinahe vergessen hatte. Vielleicht hatte er mit seiner Annahme doch falsch gelegen. "Es war deine eigene Entscheidung, das Grab deiner Mutter nicht zu besuchen und es gab keinen Grund für mich, dich dazu zu zwingen."

"Was ist mit dir?" Shinji wartete einen Moment auf eine Antwort, doch es kam keine. Als er erkannte, dass sein Vater vielleicht nicht verstand, was er meinte und sich nicht die Mühe machen wollte, nachzufragen, versuchte Shinji es erneut. "Bist du in den Jahren, in denen ich nicht gekommen bin, hier gewesen?"

"Ist was wichtig?"

'"Manchmal muss man Erinnerungen begraben um zu überleben, aber es gibt auch Dinge, die wir niemals vergessen dürfen.'"

"Nein", murmelte Shinji halbherzig, kaum sich selbst zuhörend.

'"Yui hat mich etwas gelehrt, was für mich immer unersetzlich bleiben wird."'

"Ich glaube nicht..."

'"Und wenn ich hierher komme, dann nur um mich dessen zu vergewissern."'

Es war so naiv zu glauben, dass...

"Weißt du", begann er, die Bitterkeit in seiner Stimme nahm zu, als er sich wieder aufrichtete. "Ich dachte ich würde inzwischen in der Lage sein, dich besser zu verstehen. Aber tatsächlich verstehe ich dich sogar noch weniger, als zuvor. Wie..." Er drehte sich um. "Wie kann jemand wirklich sein eigenes Kind fortschicken wollen?"

"Ich habe keinen Grund mich vor dir zu rechtfertigen, wenn du bereits weißt, dass du es nicht verstehen kannst."

"Nein, vielleicht nicht. Du würdest sowieso alles auf den Schmerz ihres Verlustes schieben. Glaubst du wirklich, dass du der einzige bist, der je so gefühlt hat? Du bist nicht der einzige, der eine geliebte Person verloren hat!" Er machte eine Pause, als er die beiden Andeutungen in seinem letzten Satz bemerkte, aber sein Vater zeigte nicht den geringsten Anhaltspunkt, dass er etwas von dem Offensichtlichen bemerkt hatte. "Aber anders als die meisten Menschen, hast du nicht in Ehren gehalten, was sie hinterlassen hat. Anstatt es zu benutzen, um dich an die Liebe zu erinnern, die sie gegeben hat, hast du es nur als eine Erinnerung an ihren Verlust betrachtet. Also hast du es einfach weggeworfen, weil dessen bloße Existenz dich schon verletzt hat."

"Worauf willst du hinaus?"

Shinjis Augen verhärteten sich, aber er war nicht dazu in der Lage, sie zu denen seines Vaters zu heben. Die Angst vor dem, was er als Antwort darin finden könnte, war immer noch zu groß. Selbst nach all diesen Jahren.

"Verletzt... meine... bloße Existenz dich?", fragte er schließlich, die Stimme so kalt wie die seines Gegenübers.

Es gab eine kurze Pause, bevor der Commander antwortete, aber Shinji konnte nicht sagen, ob er darüber nachdenken musste, oder ob er die Zeit einfach nur brauchte, um seine Brille zurecht zuschieben. "Stell kein Fragen, auf die du die Antwort nicht hören möchtest."

Das laute, grollende Geräusch eines landenden VTOLs, so deplatziert, so anmaßend, so respektlos die Ruhe der Toten störend, kündigte das Ende des kurzen Treffens an.

"Es ist Zeit", stellte Gendo fest. Aber gerade als Shinji dachte, dass er sich umdrehen und zu seiner Transportmöglichkeit gehen würde, sah der Mann ihn noch einmal an. "Es war vermutlich das Beste, dass du deinen Zorn jetzt ausgelassen hast, anstatt ihn in dir anzusammeln. Es ist unwichtig, ob du mich hier und jetzt verabscheust. Aber es sollte deine Fähigkeit deinen EVA zu steuern nicht beeinflussen."

"Mach dir keine Sorgen", versprach Shinji murmelnd, seinen Vater beobachtend, wie er ging, ohne auf eine Antwort zu warten. "Es wird nicht wieder vorkommen. Es scheint wahr zu sein: Das AT-Feld ist undurchdringlich. Von außen sowie von innen..."



****************



"Ich bin zuhause!", verkündete er, obwohl er daran zweifelte, dass jemand da war um es zu hören.

"Könntest du das bitte lassen?", kam trotzdem eine zaghafte Antwort aus dem Wohnzimmer. "Ich weiß, dass es Tradition ist und so, aber... nur für eine Weile, bitte."

Ihrer Stimme folgend, fand er seine Liebste auf dem Boden sitzend, während sie leblos in Richtung des Fernsehers starrte, offensichtlich nicht einmal versuchend, dem Programm zu folgen.

"Asuka? Ich dachte Hikari hätte dich dazu überredet wieder zu dieser Verabredung zu gehen?"

"Ich habe gesagt, ich würde für nichts garantieren."

"Naja, überhaupt nicht hingehen ist wohl sogar noch härter, als einfach zu gehen, während er irgendwo für dich ansteht", murmelte Shinji, als er zu ihr herüber ging. Ein schwaches Kichern ging von ihm aus. "Obwohl es mir wirklich nichts ausmacht", fügte er hinzu und lehnte sich herunter, um ihr einen Kuss auf den Kopf zu geben.

Er empfand keine Eifersucht, da er den Studenten nie als eine Bedrohung gesehen hatte, wenn er sich an ihre Reaktion auf ihn erinnerte. Tatsächlich hatte er sogar gehofft, dass sie ein wenig Spaß haben würde und dadurch Ablenkung, selbst wenn es nicht mit ihm war. Aber nach der enttäuschenden Wiedervereinigung mit seinem Vater, war er mehr als glücklich, dass sie geblieben war.

Asuka war jedoch nicht wirklich in der Stimmung, um Zärtlichkeiten auszutauschen. "Dachtest du wirklich ich könnte jetzt zu einer Verabredung mit einem Kerl gehen, den ich schon das erste Mal nicht ausstehen konnte, während meine... meine Tochter vermisst wird?"

Shinji schloss seine Augen, versuchte die aufkommenden Gefühle zu unterdrücken. Aber wie schon so oft, scheiterte er kläglich.

"Hast du keine Angst, dass Hikari dir das übel nimmt?", versuchte der das Thema zu wechseln, bevor es richtig begonnen hatte.

"Sie wird vielleicht enttäuscht sein, aber sie ist viel zu gutherzig, um es mir vorzuhalten. Ich werde einfach sagen, dass es mir immer noch nicht wieder richtig gut ging und sie wird es akzeptieren", murmelte Asuka in einem Tonfall, der ihm jetzt schon sagte, dass seine versuchte Ablenkung gescheitert war. "Es ist nicht wirklich eine Lüge..."

Er ballte seine Hände zu Fäusten, als er sie so niedergeschlagen sah. So sehr er es auch zurückhalten wollte, er konnte seinen Zorn nicht länger verbergen. Er war wütend auf sie, weil sie sich selbst so gehen ließ. Und er war wütend auf sich selbst, weil er so lange nur zugesehen hatte, wie sie sich so lange in ihrem eigenen Selbstmitleid gewälzt hatte.

"Willst du das wirklich?", zischte er. "Einfach hingehen und allen in der Schule und bei NERV vormachen, dass alles in bester Ordnung ist und Trübsal blasen, wenn wir unter uns sind, bis es wieder zum Third Impact kommt? Das ist sogar noch schlimmer als das, was du zuvor getan hast!"

Er wusste, dass er einen Nerv getroffen hatte, als er sie zusammenzucken sah. "Sag sowas nicht."

"Warum sollte ich nicht? Glaubst du, das alles trifft mich überhaupt nicht? Mir tut es auch weh! Aber wir können überhaupt nichts ändern, wenn wir einfach der zwecklosen Hoffnung hinterherlaufen, sie auf diese Weise wiederzusehen."

Das Schluchzen, das ihr entwich, brach sein Herz genau wie seine Wut. Und mit einem Seufzen löste sich auch seine Entschlossenheit in Wohlgefallen auf und wurde durch Schuldgefühle ersetzt. Wem versuchte er vorzumachen, dass er sie mit Gewalt aus diesem Zustand befreien könnte? Aber sie noch mehr zu verletzen...

Er kniete sich neben sie und zog sie in eine Umarmung. "Es tut mir Leid. Aber... Asuka, bitte tu' mir das nicht an. Es tut bereits so weh. Dich zu sehen, wie du dich selbst so aufgibst... ich will dich nicht auch noch verlieren.

"Ich weiß, dass es hart ist, aber... wir haben wirklich die Chance jetzt alles zu ändern. Ich kann das nicht einfach an mir vorbeiziehen lassen. Selbst wenn es nicht für sie ist... Selbst, wenn es sie nicht zurückbringt... weiß ich, dass ich es einfach versuchen muss. Denn sonst, wenn ich sie jemals wiedersehen sollte, ob in dieser Welt oder der nächsten, weiß ich nicht, wie ich ihr je wieder in die Augen sehen könnte, wenn ich nicht mein Bestes gegeben hätte.

"Aber ich glaube nicht, dass ich es allein schaffen kann", flüsterte er in ihr Ohr. "Ich brauche dich, Asuka. Wenn wir das alles schon nochmal durchleben müssen, dann lass uns wenigstens das Beste daraus machen."

Sie antwortete nicht, aber zumindest schien sie sich zu beruhigen. Er gab ihr die Zeit, die sie brauchte, hielt die beruhigende Umarmung für mehrere Minuten.

"Erinnerst du dich?", hörte er sie schließlich Murmeln. "Als ich von der Verabredung nach Hause gekommen bin?"

"Ich hab auf meinem Cello gespielt", bestätigte er. Vorsichtig lächelnd, ahnte er, was sie wollte. "Möchtest du, dass ich etwas spiele?"

Ihre Antwort war ein schwaches Nicken.

"Okay..." Er küsste ihr Haar und drückte sie kurz, bevor er seine Umarmung löste und aufstand. "Bin gleich wieder da."

Shinji brauchte nur ein paar Minuten, um das Cello aus seinem Koffer zu holen und es vor sich zu stellen, als er sich auf den Stuhl setzte, den er aus der Küche geholt hatte.

"Irgendwelche besonderen Wünsche?", fragte er, das Instrument mit ein paar leichten Zügen testend, während Asuka sich auf den Boden neben dem Stuhl hinkniete, ihre Augen überall, nur nicht auf ihm.

"Ein fröhliches Lied."

Ein lautes kreischendes Geräusch ertönte, als er überrascht den Bogen über die Saiten riss.

"Spiel das fröhliche Lied", flehte sie erneut, ihre Stimme nicht mehr als ein leises Wimmern.

Er brachte den Bogen zurück an das Instrument, aber er konnte ihn nicht bewegen, um die Noten zu erzeugen. Natürlich war es nicht, weil er sich nicht erinnern konnte – es war gerade weil er sich so genau daran erinnerte. Er hatte es so oft gespielt, dass die notwenigen Bewegungen so natürlich geworden waren, dass seine Finger es hätten spielen können, ohne dass er darüber hätte nachdenken müssen.

Er hatte es so oft gespielt... für Aki...

Hatte sie sanft in den Schlaf sinken lassen, die Melodie leise fortführend, während er sie dabei beobachtete, wie sie mit ihrem wunderschönen Lächeln in die Sphären der Träume eintrat und sich eng an die kleine Puppe in ihren Armen kuschelte. Hatte sie begleitet, als sie das Stück summte, während sie, wie so oft, mit dem Bauch auf dem Boden lag und abwesend an einem Bild herum malte. Und versucht sie aufzumuntern, wenn sie Krank gewesen war.

Zitternd hing der Bogen für mehrere Sekunden in der Luft, bevor er ihn zurück an seine Seite fallen ließ. "Ich..."

Asukas bebende Hände gruben sich plötzlich in seine Hose, kräftig genug um ihn beinahe aus der Balance zu bringen. "Bitte... bitte spiel ihr – ihr fröhliches Lied! Ich muss es einfach hören!"

"Es tut mir leid. I-Ich glaube, ich kann nicht. Es sollte immerhin ein fröhliches Lied sein. Aber nun würde es niemanden Fröhlichkeit bringen – weil es ihres war."

"Es würde meine Traurigkeit lindern!", schrie Asuka, mit vertränten Augen zu ihm aufblickend. "Ich habe nichts anderes von ihr! Ich habe keine Fotos von ihr, keines ihrer Bilder, nicht Kiko, i-ich habe nicht..." Ihr Ausbruch wurde von einem Schluchzen unterbrochen, das ihre Kehle zuschnürte. "Bitte. Das Lied... das Lied ist alles, was von ihr geblieben ist."

"Es tut mir Leid", schafft er es zu erwidern, unfähig seine Augen von dieser herzzerreißenden Szene abzuwenden, obwohl jeder Instinkt in ihm sagte, er solle es tun. Er konnte es wirklich nicht. Ohne es zu wollen dachte er wieder an den Friedhof, wo nichts bis auf den schwarzen Grabstein an seine Mutter erinnerte. Er wusste bereits wie es war, keine Erinnerungsstücke zu haben. Doch so schrecklich es auch gewirkt hatte, fast keine Erinnerungen zu haben, war er sich nicht sicher, ob das nicht vielleicht besser war, als wenn man so viele hatte, die einen verfolgten. "Vie-vielleich wenn ich... wenn wir beide dazu bereit sind. Vielleicht dann. Aber nicht jetzt..."

Er hasste sich selbst dafür, das gesagt zu haben. Selbst wenn es die Wahrheit war. Aber er wusste, wie sehr es sie verletzte, dieser unbeabsichtigte Betrug, als sie zusammenbrach, ihr Gesicht in seinem Hosenbein vergrub.

Er war nicht sicher welches Stück er zu spielen begann, als er die Feuchtigkeit der Tränen spürte, die an seinen Wangen hinunterflossen und seine Hose durchweichten. Es war jedenfalls kein fröhliches.


*********


Keiner von ihnen hatte sich um die Zeit gekümmert, doch er musste bereits einige Stunden gespielt haben, als das Telefon begann zu klingeln. Asuka hatte sofort protestiert, wollte, dass er es ignoriert. Schließlich wussten sie bereits, dass es Misato war, die ihnen sagen würde, dass nicht so bald nach Hause kommen würde, weil sie nach der Hochzeit, auf die sie war, noch mit Kaji etwas trinken gehen würde. Aber er hatte bereits aufgehört zu spielen und den Moment damit zerstört. Und er wollte nicht, dass Misato sich Sorgen machte. Als er von dem kurzen Gespräch zurückkehrte, hatte Asuka sich bereits zum Tisch zurückgezogen, ihm den Rücken zugewandt. Ein offensichtliches Zeichen, dass sie allein gelassen werden wollte, vielleicht sogar, dass sie sich von ihm betrogen fühlte. Er versuchte sie zu überzeugen, dass dem nicht so war, bot ihr an wieder für sie zu spielen, doch sie antwortete nicht. Er gab schnell auf.

Und nun saßen sie sich gegenüber, keiner sagte auch nur ein Wort. Schon wieder.

Asukas missmutiges Gesicht betrachtend, begann Shinji sich zum vielleicht tausendsten Mal in den letzten Tagen Vorwürfe zu machen. Er wusste, dass es nicht so weitergehen konnte. Egal, wie sehr es sie verletzte, sie konnten sich nicht ewig der Trauer hingeben, wenn sie Erfolg haben wollten.

Das Problem war, dass Asuka anscheinend nicht einmal Erfolg haben wollte. Er hatte törichterweise gehofft, dass sie irgendwie ihren feurigen Kampfgeist wiederfinden würde, dass sie es wieder sein würde, die sie beide antreiben würde. Natürlich war das unglaublich egoistisch von ihm. Vor allen außer sich selbst vorzugeben, dass alles wäre, wie es immer gewesen war, war für sie so viel schwerer als für ihn. Und sie konnte ihre verschlossene Haltung nicht mehr Länger darauf schieben, dass sie ausgebrannt wäre oder eine mysteriöse, aber ungefährliche Krankheit hätte.

Hatte er nicht bereits vor langer Zeit gelernt, dass er die Initiative ergreifen musste, wenn sie es nicht tat? Manchmal sogar gegen ihren Willen, wenn dieser nichts anderes tat, als sie zu verletzen?

Er brauchte sie. Aber zuerst brauchte sie ihn. Nur dann, zusammen, hatten sie eine Chance sich zu erholen.

"Hey, Asuka, lass uns küssen."

Seine sanfte Stimme war zumindest genug, sie aus ihren Gedanken schrecken zu lassen. "Was?"

"Küssen, du weißt schon. Du hast es doch schon mal gemacht?", fuhr Shinji mit dem Spiel fort mit einem leichten Lächeln in Reaktion auf ihr verdutztes Gesicht. "Na dann los, komm."

"Shinji, ich bin nicht in der Stimmung...", murmelte Asuka, als sie endlich bemerkte was er vorhatte, als er von seinem Stuhl aufstand und langsam den Tisch umrundete.

"Aber wir haben nichts besseres zu tun", widersprach er, ohne die Absicht aufzuhören, das breiteste Grinsen aufbringend, das er konnte. "Du hast doch keine Angst davor, am Todestag deiner Schwiegermutter zu küssen, oder?"

"Das ist Blödsinnig...", murmelte sie leicht verstimmt, aufstehend um woanders weiter zu schmollen, doch er versperrte ihr sogleich den Weg.

"Also gut, fangen wir an...", flüsterte er, sanft ihren Arm haltend, als er sich ihr zu lehnte.

"Shinji...", hauchte sie, ihr Widerstand schmolz mit jedem Zentimeter, den er näher kam, mehr und mehr dahin.

"Es macht mir nichts aus, wenn du dir die Zähne nicht geputzt hast", wisperte er als er sah, dass ihre Augenlieder zu flatterten, in der Erwartung dessen, was unweigerlich folgen würde.

Sie war überrascht, versteifte sich gegen seine Lippen, als seine Hand plötzlich zu ihrer Nase wanderte und sie vorsichtig zudrückte, um ihre Atemwege zu versperren. Aber gerade als er begann zu fürchten, dass sein Versuch sie aufzumuntern gescheitert war, spürte er ihre Hand auf seiner. Shinji leistete keinen Widerstand, als sie sie mit einem leichten Griff von ihrer Nase nahm und an ihre Hüfte führte. Langsam legte sie ihre Arme um seinen Hals, erwiderte den Kuss. Und dann, als wäre ein Damm gebrochen, zogen und drückten sie ihre Körper zusammen; der Kuss steigerte sich auf seine Weise in immer neue Höhen, war leidenschaftlicher als in Jahren, vielleicht sogar als jemals zuvor.

Er konnte das Verlangen spüren, die verzweifelte Sehnsucht nach Liebe und Zuneigung, die sie beide durch den Kuss durchströmte. Nach allem was sie verloren hatten, hatten sie noch immer sich, nur noch sich und wenn dies der einzige Weg war es auszudrücken, dann würden sie es so perfekt und so dauerhaft wie möglich machen, wann immer sie die Möglichkeit dazu hatten.

"Das...", sie brachte ein schwaches Lächeln hervor, als sie schließlich nach Luft schnappend voneinander abließen. "Das ist es, was du tun solltest, wenn dir jemand beim Küssen die Nase zuhält."

"Ich versuchte es mir zu merken", kichert er. "Also, fühlst du dich jetzt ein bisschen besser?"

Zu seinem Bestürzen sah er ihr Lächeln wieder schwinden und fürchtete bereits, dass der vergangene Moment nichts als ein kurzes Aufflackern von Normalität war, als sie sich von ihm abwandte.

"Asuka...?", rief er besorgt ihren Namen, als sie geradewegs auf die Haustür zuhielt und sich hinhockte, um ihre Schuhe anzuziehen.

"Tut mir leid Shinji, aber..." Sie richtete sich wieder auf und drehte sich halb zu ihm um. "Ich weiß, dass du versuchst mich nicht zu drängen. Aber das ist... I-Ich muss eine Weile nachdenken. Für mich allein, okay?"

Sie war gegangen bevor er antworten konnte.


*********


Die untergehende Sonne badete den Spielplatz in weiches orangenes Licht, aber Asuka kümmerte sich nicht um die Uhrzeit, oder dass sie schon mindestens eine Stunde lang dort gewesen war. Sie hatte sich nicht die Mühe gemacht den paar anderen Leuten Beachtung zu schenken und es schien sich auch niemand um ihre Anwesenheit zu kümmern. Zumindest hatte sie niemand angesprochen, seit sie sich auf eine der Schaukeln gesetzt hatte, nur langsam vor und zurückschaukelnd, ihre Augen auf nichts gerichtet als ihre Erinnerung.

Diese Schaukel war die einzige von dreien gewesen, die unbeschädigt gewesen war und stabil genug, um die lachende Aki in unerreichbare Höhen zu katapultieren. Der Spielplatz selbst war der einzige noch benutzbare in der Gegend gewesen, auch wenn das nur die Schaukel, die Wippe und die Rutsche betraf, welche allerdings etwas verformt und dadurch recht holprig war. Der Sandkasten war mit zu vielen Trümmern gefüllt, als das man darin hätte spielen können und das Klettergerüst war zusammengebrochen, nachdem sie das erste Mal testend daran gerüttelt hatten.

Her zukommen war immer ein wenig strapazierend für ihre Nerven gewesen, weil sie ständig auf der Hut vor Gefahren sein musste, ohne das Kind davon wissen zu lassen. Aber es war egal gewesen, solange Aki glücklich war.

Shinji hatte einmal die Idee angesprochen ein paar Spielgeräte, wie eine Schaukel und einen Sandkasten, im Garten aufzustellen, vielleicht als Geschenk für Akis kommenden Geburtstag, sodass sie spielen könnte, ohne dass sie sich Sorgen um ihre Sicherheit machen mussten. Aber sie hatte zuerst darüber nachdenken wollen, denn diese Ausflüge waren ein Weg für das quasi eingesperrte Mädchen hin und wieder ihr bequemes Gefängnis zu verlassen.

Nun war es zu spät.

Asuka konnte nicht einmal mehr sagen ob überhaupt noch Tränen über ihre Wangen liefen, oder ob ihre Augen genauso leer waren, wie sie sich fühlte. Es war bereits so schwer. Wie konnte Shinji von ihr erwarten, nicht nur ihr feuriges vierzehnjähriges Selbst zu spielen, sondern es wirklich zu sein und mit ganzem Herzen für eine bessere Welt zu kämpfen? Natürlich konnte sie seinen Wunsch zu helfen verstehen, dass er sie retten wollte. Er vermisste Aki genau so sehr wie sie es tat, doch es wirkte immer so einfach für ihn, seinen eigenen Schmerz zugunsten von anderen herunterzuschlucken. Er sagte oft von sich, er wäre nur egoistisch, dass er andere dazu bringen wolle ihn zu mögen und das hatte sie für eine lange Zeit auch selbst geglaubt. Aber verglichen mit anderen, sie selbst eingeschlossen, war er, selbst mit diesem Motiv, der fürsorglichste und mitfühlendste Mensch den sie kannte.

In dieser Hinsicht konnte sie nicht mit ihm mithalten. Er schien so sehr helfen zu wollen, alles wieder gut machen, was schief gelaufen war und sie hatte es in den letzten Tagen kaum geschafft diese Fassade aufrecht zu erhalten. Sie wusste, dass sie einen bestimmten Status Quo erhalten musste, denn die sonst folgenden Konsequenzen waren nicht sehr erstrebenswert.

Aber welchen Grund hatte sie ihnen zu helfen? Was war ihr geblieben, für das sie kämpfen konnte? Weil Shinji sie darum geben hatte, ja. Und sie würde es für ihn tun und das nicht nur, weil sie ihn nicht enttäuschen wollte. Sie könnte es nicht ertragen, falls er verletzt oder sogar getötet werden würde, bei dem Versuch ganz allein das aufzuhalten, von dem sie wussten, was kommen würde. Aber was war mit ihr?



Ein Ball hüpfte plötzlich in ihr Sichtfeld, rollte direkt vor ihre Füße. Langsam von der Schaukel steigend, reichte sie nach dem unerwarteten Objekt, um es aufzuheben. Für einige Sekunden hatte sie beinahe vergessen wo und wann sie war, ihre Sinne sagten ihr, dass der Ball aus dem Nichts gekommen sein musste, da niemand auf der Welt übrig war, der ihn hätte werfen können. Zumindest bis eine schüchterne Stimme sie daran erinnerte, dass es nicht so war. Nicht mehr.

"Tantchen!" Sie brauchte einen Moment, um zu realisieren, dass die Stimme dem kleinen Mädchen neben ihr gehörte, das seine kleinen Arme ausstreckte. "Kann ich main Ball wieda ham, bidde?"

Asuka tat worum sie gebeten wurde, aber ihre Augen und ihr Verstand konzentrierten sich mehr auf das Gesicht des Mädchens, als auf die Aufgabe. Es wäre eine glatte Lüge gewesen zu sagen, dass sie genau wie Aki aussah. Das Mädchen war nicht nur ein gutes Jahr jünger, ihre Augen waren braun und ihre Haare pechschwarz. Und Aki hatte es immer gehasst, wenn ihre Haare zu Zöpfen geflochten waren (oder irgendwie sonst). Und doch...

"Geh's dir gut, Tantchen?", fragte das Mädchen neugierig, da sie anscheinend anders als Asuka das Starren bemerkte.

"Nein. Ich meine...", stammelte sie kopfschüttelnd, "Ja..."

"Kimiko!", rief eine Frau im mittleren Alter aus einigen Metern Entfernung. "Wir müssen gehen!"

"Scho'?"

"Ja, Liebling, es wird spät!"

Kimiko schmollte etwas, als sie sich wieder Asuka zuwandte. "Muss geh'n, t'üss Tantchen."

"Tschüss...", erwiderte der Rotschopf, doch das Mädchen war bereits zu seiner Mutter geeilt.

Und sie war nicht die einzige. Als Asuka sich umsah, sah sie wie mehrere Eltern ihre Kinder zu sich riefen um zu gehen. Und andere, die den neuesten Tratsch austauschten, während ihre Kinder Fangen um sie herum spielten. Und wieder andere, die mit ihren eigenen Spielten.

Eine Mutter, die ihr Neugeborenes fütterte, immer wieder zu einem Mädchen blickend, dass Sandkuchen "backte". Ein Vater, der sich um das aufgeschürfte Knie seines Sohnes kümmerte. Lachende Kinder, die sich der Gefahr gar nicht bewusst waren, die jeden Tag über sie hereinbrechen konnte.

Ihr Magen verdrehte sich vor Schuld. Wie konnte sie nur so blind gewesen sein? Es gab so viele Familien. So viele unschuldige Kinder, genau wie Aki, die allein und hilflos wären, wenn ihre Eltern aus ihren Leben gerissen werden würden. So viele Vater und Mütter, genau wie sie, die ihre Kinder vermissen würden, wenn ihnen etwas zustoßen würde.

Sie würde dieses Gefühl nicht einmal ihrem schlimmsten Feind wünschen. Aber mit so vielen Engeln, die noch kommen würden, mit der gewaltigen Gefahr eines Impactes der – auf seine Weise – so viel schlimmer sein könnte, als der, den sie erlebt hatte. Es war viel zu wahrscheinlich, dass zu viele wie sie leiden würden.

War sie nicht das Second Children? Die beste aller EVA-Piloten? Diese Eltern konnten weder sich selbst noch ihre Kinder vor den Feinden und dem Schicksal beschützen, die sie erwarteten.

Aber sie konnte es. Für diese Menschen musste sie es tun.

Sie vertrauten auf sie, brauchten sie. Und wer war sie, diese Familien im Stich zu lassen? Immerhin war sie Asuka Langley Ikari... oder Soryu – das machte nicht wirklich einen Unterschied.

Fest entschlossen, ihre Hände zu Fäusten geballt, wandte sie sich der Richtung zu, aus der sie gekommen war. "Okay Shinji. Lass uns diese Welt retten."
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